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Lex Möhlmann: BVerfG über Wiederaufnahme in einem Mordfall

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in der letzten Woche mit einem Urteil für Aufsehen gesorgt. Es entschied über die Wiederaufnahme eines Verfahrens, in dem neue Beweise ans Tageslicht gekommen waren.  Im Raum steht die Verurteilung eines einst Freigesprochenen wegen Mordes – und die Frage, ob der neue § 362 Nr. 5 StPO überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Das Wichtigste in Kürze

✅ Ein Mordfall aus dem Jahr 1981 soll wieder aufgenommen werden. Der Angeklagte war ursprünglich freigesprochen worden.
✅ DNA-Spuren sollen nun neue Erkenntnisse in dem Mordfall gebracht haben.
✅ Grundsätzlich dürfen Verurteilte oder Freigesprochene nicht wegen derselben Tat nochmal angeklagt werden (Strafklageverbrauch, Art. 103 GG).
✅ Das BVerfG sieht keinen Grund zur Wiederaufnahme des Verfahrens und hält den § 362 Nr. 5 StPO für verfassungswidrig.

Triggerwarnung

Die folgende Textpassage enthält eine Beschreibung von gewalttätigen Handlungen und kann bei manchen Leser:innen negative emotionale Reaktionen auslösen. Bitte lies weiter, wenn du dich dazu in der Lage fühlst oder überspringe diesen Abschnitt, wenn dich solche Inhalte stören oder belasten. Deine Gesundheit und dein Wohlbefinden sind wichtig.

In dem Fall, der vor dem Bundesverfassungsgericht landete, ging es um einen Mordfall aus dem Jahr 1981. Damals ist eine 17-Jährige nach einer Chorprobe in das Auto eines Unbekannten gestiegen. Doch anstatt sie nach Hause zu fahren, soll dieser mit ihr auf eine Lichtung im nahegelegenen Waldgebiet gefahren sein und sie vergewaltigt haben, bevor er sie dann erstach. Die Leiche wurde einige Tage später von einer Familie gefunden. 

Erste Verhandlung im Jahr 1983

1983 – also 2 Jahre später – kam es zu einer Anklage. Aufgrund von Reifenspuren am Tatort fiel der Verdacht auf einen Mann aus Celle. Dieser wurde vom Landgericht Stade (LG Stade, 13.05.1983 – 10 Ks 12/83) aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Mit dem Freispruch endete das Verfahren und auch die Familie des Mädchens akzeptierte dies.

Als dann aber 2012 DNA-Spuren vom damals Angeklagten auf der Kleidung des Opfers gefunden wurden, setzte sich der Vater des Mädchens für die Wiederaufnahme des Verfahrens ein. 

Das Problem dabei? In der Strafprozessordnung sind abschließend Gründe für eine Wiederaufnahme geregelt. Das bedeutet, dass nach § 362 StPO eine Wiederaufnahme bis zum Jahr 2021 nur dann möglich ist, wenn entweder eine falsche Urkunde, eine falsche Zeugenaussage, ein:e befangene:r Richter:in oder ein Geständnis vorliegt. 

Neue DNA-Spuren reichen demnach grundsätzlich nicht aus, um das Verfahren erneut zu eröffnen. Gegen diesen Umstand kämpfte der Vater des Mädchens. Er sammelte in einer Petition bis zu 180.000 Unterschriften für die Wiederaufnahme. Die Bemühungen halfen allerdings nicht. 

Lex Möhlmann: § 362 StPO wird geändert

Allerdings gab es 2021 eine von der großen Koalition beschlossene Gesetzesänderung: Das von der Presse als “Lex Möhlmann” getaufte Gesetz, nach dem damaligen Opfer Frederike von Möhlmann.  

Dieses Gesetz beinhaltet eine Änderung der Strafprozessordnung. Genauer gesagt des § 362 StPO, dem neben den bereits bestehenden Gründen für eine Wiederaufnahme noch ein weiterer Grund hinzugefügt werden sollte. Die Aufnahme des § 362 Nr. 5 StPO erlaubte eine Wiederaufnahme des Verfahrens, wenn neue Tatsachen oder Beweise vorgelegt werden, die es rechtfertigen, den Freigesprochenen doch noch zu verurteilen. Die Regelung bezieht sich dabei aber nur auf Fälle, in denen die beschuldigte Person wegen besonders schwerwiegender Straftaten wie z. B. Mord angeklagt wurde. 

Konkret heißt es in § 362 Nr. 5 StPO:

Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig, (…) wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen 

– Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), 
– Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), 
– des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder 
– Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) 

verurteilt wird.

Bereits bei der Entstehung des Gesetzes hatte es diverse Diskussionen über das Thema gegeben. Sowohl Expert:innen als auch der Bundespräsident äußerten Zweifel darüber, dass die Gesetzesänderung mit dem Grundgesetz in Einklang steht. 

Im Grundgesetz ist in Art. 103 III GG der Grundsatz “ne bis in idem” (deutsch: “nicht zweimal in derselben Sache”) verankert. Danach darf eine einmal verurteilte oder freigesprochene Person kein zweites Mal für die gleiche Tat verurteilt werden. In Fachkreisen spricht man vom sogenannten Strafklageverbrauch. Das bedeutet, dass die Anklage wegen eines Vorwurfs “verbraucht” ist, sobald es zu einem Endurteil kommt. Trotzdem ist das Gesetz aber in Kraft getreten. 

Wiederaufnahme und Untersuchungshaft im Fall Frederike

Aufgrund der Gesetzesänderung und der neuen Beweise stellte die Staatsanwaltschaft im Februar 2022 einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Der strafrechtliche Vorwurf lautet ein weiteres Mal: Mord aus dem Jahr 1981 an der 17-Jährigen Frederike. 

Am 25.02.2022 wurde dieser Antrag zugelassen und das Verfahren wieder aufgenommen. Der bereits damals Angeklagte kam erneut in Untersuchungshaft. Eine dagegen eingelegte Beschwerde seinerseits wurde vom OLG Celle im April 2022 verworfen. Dagegen legte der Beschuldigte eine Verfassungsbeschwerde ein. 

Das Bundesverfassungsgericht fällt Grundsatzurteil

Ende Oktober 2023 dann die große Entscheidung des BVerfG: § 362 Nr. 5 StPO sei verfassungswidrig. Die Norm verstoße gegen Art. 103 III GG, der das Verbot einer Wiederaufnahme des Verfahrens wegen demselben Vorwurf zu Ungunsten des Freigesprochenen beinhaltet. Der Art 103 II GG verbiete also nicht nur die Mehrfachbestrafung, sondern auch die Mehrfachverfolgung.

Dieses Verbot soll nur dann nicht gelten, wenn der erste Freispruch auf Grundlage eines nicht rechtsstaatlichen Urteils ergangen ist. Das ist z. B. dann der Fall, wenn einer der in § 362 Nr. 1-4 StPO normierten Gründe zutrifft. Dabei geht es um Beweismittel, die nicht geeignet waren ein rechtskräftiges Urteil herbeizuführen. 

Wenn es aber um neue Tatsachen oder Beweise gehe, dann gelte das Verbot in Art. 103 III GG. Der Grund: Das Verfahren, das ohne die neuen Beweise geführt wurde, sei nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geführt worden, so das Verfassungsgericht. 

Zudem sei durch das Gesetz das Rückwirkungsverbot beeinträchtigt. Das Rückwirkungsverbot besagt, dass Gesetze nicht auf abgeschlossene Sachverhalte in der Vergangenheit Bezug nehmen dürfen. In diesem Fall nimmt der § 362 Nr. 5 nicht nur Bezug auf alle neu begangenen Straftaten und deren Verfahren, sondern insbesondere auf alte Verfahren, die bereits abgeschlossen sind.

Bürger:innen sollen auf ein rechtskräftiges Urteil vertrauen können. Das Rückwirkungsverbot zielt also in erster Linie nicht darauf ab, die – möglicherweise zu Unrecht – freigesprochene Person zu schützen, sondern vielmehr unschuldig Angeklagte. Unschuldig Angeklagte sollen nicht mit der Angst leben müssen, in der Zukunft erneut angeklagt zu werden. Andernfalls können sich Verurteilte nie sicher sein, dass das Verfahren gegen sie mit dem Endurteil auch wirklich beendet ist. 

Das BVerfG hat in dem konkreten Fall auch erkannt, dass die materielle Gerechtigkeit vom Urteil abweicht. Es hat durchaus gesehen, dass die Beweise gegen den mutmaßlichen Täter erdrückend sind. Trotzdem hat es entschieden, dass die materielle Gerechtigkeit gegenüber der Rechtssicherheit zurückweichen muss. Es ist sogar soweit gegangen, dass es davon ausgeht, die Bestimmung aus Art. 103 III GG sei abwägungsfest. Damit ist gemeint, dass das Verbot der Mehrfachbestrafung auch nicht mit anderen Rechten von Verfassungsrang abgewogen werden kann. 

Uneinigkeit unter den Richter:innen

Das Urteil des BVerfG wurde allerdings nicht einstimmig geschlossen. Zwei Richter:innen des Senats waren in diesem Fall anderer Meinung.

Wie entscheidet das BVerfG?

Das Bundesverfassungsgericht ist in zwei Senate eingeteilt. Jeder Senat behandelt bestimmte Klagearten. Verfassungsbeschwerden werden grundsätzlich vom ersten Senat behandelt. Im Senat sitzen jeweils 8 Richter:innen.

Im Falle einer Verfassungsbeschwerde entscheiden die Richter:innen mit einer einfachen Mehrheit. Sind Richter:innen mit der Entscheidung nicht einverstanden, können sie ihre Begründung als Sondervotum der Entscheidung anhängen.

Die beiden Richter:innen, die gegen das Urteil gestimmt hatten, haben in ihren Sondervoten eine andere Einschätzung gegeben. Zwar sei im aktuellen Fall durch § 362 Nr. 5 StPO das Rückwirkungsverbot verletzt, der Gesetzgeber könne aber für die Zukunft durchaus festlegen, dass es eine Wiederaufnahme aufgrund von neuen Tatsachen oder Beweisen geben könne. 

Anders als ihre Kolleg:innen gehen die Richter:innen also davon aus, dass Art. 103 III GG nicht abwägungsfest ist und den verfassungsrechtlichen Schranken unterliegt. Es sei nicht klar, warum eine Wiederaufnahme aufgrund einer falschen Urkunde oder falschen Zeugenaussagen möglich sei, aber eine Wiederaufnahme wegen neuer Tatsachen oder Beweise nicht. 

Das Urteil des Bundesverfassungsgericht ist wegweisend und umstritten. Auch aus nicht-fachlichen Kreisen werden Stimmen laut, die mehr Gerechtigkeit für Gewaltopfer fordern. An weiteren Entwicklungen zu diesem Thema bleiben wir für euch dran. 

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